Die Konsequenzen einer relativen Ethik – am Beispiel der griechischen Antike

Im monumentalen Werk von Richard Tarnas “Das Wissen des Abendlandes” (englisch “The Passion of Western Mind”) las ich den Teil über das griechische Weltbild. Im Kapitel über die Sophisten schreibt Tarnas:

Sophisten … sahen im Menschen das Mass aller Dinge. Die individuellen Urteile des Einzelnen über das alltägliche Leben sollten die Grundlage der persönlichen Vorstellungen und Lebensführung bilden… Wahrheit war relativ, nicht absolut, und veränderte sich von Kultur zu Kultur, von Mensch zu Mensch und von Situation zu Sitaution. Behauptungen des Gegenteils, ob religiös oder philosophisch, hielten einer kritischen Überprüfung nicht stand. Der Wert jeder Überzeugung oder jeder Meinung liess sich letztlich nur an ihrem praktischen Nutzen messen, daran, inwieweit eine bestimmte Auffassung dem Einzelnen die Befriedigung seiner Bedürfnisse im Leben ermöglichte.

Was waren die Folgen dieser Anthropozentrik? Der Mensch verlor an Bedeutung!

Die Folge war, dass der Mensch in seiner Welt einen bedeutsameren Rang als je zuvor einnahm. Zunehmend freier und selbstbestimmter, war er sich bewusst, in einer grösseren Welt zu leben, die andere Kulturen und Religionen als seine eigene umfasste. Er wusste um die Relativität und Formbarkeit menschlicher Werte und Sitten und um die eigene Rolle bei der Schöpfung der Wirklichkeit. Zugleich aber hatte er in der kosmischen Ordnung der Dinge an Bedeutung verloren, die, wenn sie denn überhaupt existierte, ungeachtet des Menschen und seiner kulturellen Werte ihre eigene Logik besass.

Gesellschaftlich trug diese Weltanschauung zur Verschlechterung der Lebensbedingungen – vor allem der Schwächeren – bei:

Immer wieder wurde ihr radiakler Skeptizismus gegenüber allen Werten zum Ausgangspunkt für einen explizit amoralischen Opportunismus. Studenten wurde beigebracht, wie ein Argument aufzubauen sei, um so gut wie jeden Standpunkt scheinbar plausibel zu verteidigen. … Die skrupellose Verletzung selbst grundlegender ethischer Massstäbe gehörte zu Alltag – sichtbar nicht zuletzt in der  routinemässigen und oft grausamen Ausbeutung von Frauen, Sklaven und Fremden durch den exklusiven Männerbund der Athener Bürgerschaft. … Die sophistische Lehre stellte lediglich eine Erfolgsmethode bereit, nicht die erforderliche Ordnung.

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